Selbermachen im Konsumzeitalter, 1890er bis 1980er Jahre
Ein Produkt als „selbstgemacht“ zu erkennen, weckt unterschiedliche Assoziationen. Je nach Kontext gilt Selbstgemachtes als schön oder hässlich, gesund oder ungesund, modern oder altmodisch etc. und wird von industriell gefertigten Dingen abgegrenzt. Die Bewertung hängt dabei auch davon ab, wer unter wel- chen Bedingungen und aus welchen Motiven heraus etwas selber macht oder nicht. So wird etwa Studie- renden eine Ernährung auf der Basis von Fertigpizza eher nachgesehen als einer Mutter von kleinen Kin- dern.
Das Projekt untersucht Konsumentscheidungen und Praktiken dieser Art als Präferenzen im Umgang mit Zeit, Geld und materiellen Ressourcen. Warum entscheiden sich Menschen dafür, etwas selberzumachen statt zu kaufen? Formen des Gütererwerbs und des Umgangs mit Dingen geben Auskunft über Wertehal- tungen sowie soziale Ordnungsvorstellungen und die damit verbundenen Rollenerwartungen an Individuen und gesellschaftliche Gruppen. Die Industrialisierung erschütterte bisherige Vorstellungen und Praktiken von Produktion und Konsumption sowie traditionelle Zeitregimes. Mit dem rasch wachsenden Warenange- bot sowie der Trennung von Erwerbsarbeit und Freizeit entstanden alternative Wege des Gütererwerbs im breiten Spektrum zwischen Selbermachen und dem Kauf eines Fertigprodukts. Vertreter aus Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur mussten – ebenso wie der Einzelne in seinem sozialen Umfeld – die Bedeu- tung von Fertigkeiten, Rollenbildern, sozialen Beziehungsmustern sowie überkommener Wissensbestände neu aushandeln, definieren und legitimieren.
Ziel des Projekts ist es, über die analytische Unterscheidung zwischen Selbermachen und Nicht- Selbermachen die Entstehung und Entwicklung der Konsumgesellschaft in Deutschland mit ihren sozialen und kulturellen Implikationen zu analysieren. Untersuchungszeitraum ist die Hochmoderne, in der sich rapi- de wandelnde politische, ökonomische, soziale und kulturelle Rahmenbedingungen immer wieder Neuaus- handlungen an der Schnittstelle von Konsum, Arbeit und Freizeit nötig machten. Die analytische Unter- scheidung zwischen dem Selbermachen und dem Nicht-Selbermachen liegt quer zur bisherigen Konsum- forschung und ermöglicht die systematische Untersuchung sich verändernder Sozialbeziehungen, Wis- sensbestände und Praktiken im Konsumzeitalter.
Das Projekt konzentriert sich auf zwei Untersuchungsfelder: Heimwerken und Nahrungsmittelzubereitung. Im Mittelpunkt stehen Diskurse und Praktiken in Umbruchszeiten und Zeiten intensivierter Debatten. Neben sozial- und kulturgeschichtlichen Ansätzen zieht das Projekt auch Theorien aus den Sozialwissenschaften, der Ethnologie sowie der Körpergeschichte heran, um Konsum, (Lohn)Arbeit und Freizeit anhand der bei- den Untersuchungsfelder miteinander in Beziehung zu setzen.