Mittelstädtische Urbanitäten. Ethnographische Stadtforschung in Wels und Hildesheim.

In dem Forschungsprojekt sollen zwei Mittelstädte in Österreich und Deutschland aus der Perspektive der Europäischen Ethnologie (Volkskunde) ethnographisch untersucht werden, wobei alltägliches Leben und Handeln von Menschen in diesen Städten im Mittelpunkt stehen. Ausgehend von der Hypothese einer mittelstädtischen Urbanität, die sich in spezifisch mittelstädtischen Alltagspraxen und Erfahrungsmodi manifestiert und von anderen urbanen (groß- und kleinstädtischen) Lebensrealitäten unterscheidet, wird in vergleichender Sicht nach der mittelstädtischen Typik der untersuchten Städte gefragt. Fallstudien in Wels und Hildesheim sollen Erkenntnisse darüber geben, was das alltägliche Leben in diesen Städten für die unterschiedlichen AkteurInnen ausmacht und bedeutet und wie das "Mittelstädtische" in den Köpfen und Handlungen geschaffen wird; darüber kommen Mittelstädte auch allgemein als Phänomen und als spezifische Urbanität in den Blick.
Die Erforschung mittelgroßer Städte ist nach wie vor ein Desiderat der interdisziplinären Stadtforschung, die sich lange Zeit fast ausschließlich auf Großstädte und Metropolen konzentriert und allenfalls im Kontrast zu diesen Kleinstädte und ländliche Lebensformen untersucht hat. Dieses Forschungsdefizit steht im Gegensatz zur gesellschaftlichen Realität, lebt doch ein großer Teil der Menschen - vor allem in Europa - in Mittelstädten, denen vermehrt auch ein besonderes gesellschaftliches und politisches Entwicklungspotential zugeschrieben wird. Das Forschungsprojekt will diese Lücke schließen und zugleich einen Beitrag zur (alltags)kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einem Urbanitätsbegriff liefern, der die (historisch, sozialstrukturell, räumlich und kulturell) unterschiedlichen Formen und Dimensionen städtischer Lebensweisen und Alltagswelten fokussiert. Geplant sind mikroanalytische Fallstudien zu zwei Mittelstädten auf der Basis intensiver Feldforschungen. Die Stadtauswahl erklärt sich neben inhaltlichen Gründen (most contrastive cases) auch aus disziplinären Kompetenzen bzw. Perspektiven einer Anthropology at Home. Ethnographisch untersucht werden die ehemalige Industriestadt Wels mit ca. 60.000 EinwohnerInnen in Oberösterreich (Ö.) und die Kultur- und Bildungsstadt Hildesheim mit ca. 100.000 EinwohnerInnen in Niedersachsen (Dtl.), wobei für die Analyse ihrer mittelstädtischen Urbanitäten eine konsequente Kontextualisierung dieser Städte im jeweiligen Land und in der Region unerlässlich ist. Die Untersuchungen basieren auf gleichem Forschungsdesign und werden parallel durchgeführt: Zunächst sollen die Spezifik der jeweiligen Stadt, ihre lokalen Diskurse und Repräsentationen in den Blick genommen werden; hierauf sollen die Dimensionen des jeweiligen (Mittel)Stadtlebens und urbanen Alltags aus der Perspektive und Praxis der BewohnerInnen ethnographisch erkundet werden; und schließlich soll die Frage nach dem spezifisch Mittelstädtischen exemplarisch an einem paradigmatischen Feld des Urbanen (i.e. einem Ort, einem Handlungsfeld oder einem Ereignis) vertieft werden.
Das Forschungsprojekt widmet sich aus alltagskulturwissenschaftlich-ethnographischer Sicht einer oftmals vernachlässigten europäischen Lebensrealität. Es möchte die Stadtforschung um eine systematische Erkundung von (exemplarischen) Mittelstädten und mittelstädtischen Urbanitäten erweitern und damit auch die üblichen Kategorisierungen von Städten einer kritischen Überprüfung unterziehen und ergänzen. Zugleich soll - in vergleichender Zusammenschau der Ergebnisse der Fallstudien - der Urbanitätsbegriff pluralisiert und fortgeschrieben werden. 

 

Leiter / Leiterin: 
Brigitta Schmidt-Lauber
Projektnummer: 
P 23370

Förschungsförderung: