The Cultural Eye

Neben den individuellen Unterschieden ein Kunstwerk zu betrachten, werden in der kunsthistorischen Forschung seit über hundert Jahren gruppenspezifische Übereinstimmungen angenommen, die vor allem auf geographische, historische oder soziale Gemeinsamkeiten der Betrachtenden zurückzuführen sind. Michael Baxandall (1972, 1980) hat diese Vorstellungen mit seinem Konzept des "period eye" konkretisiert. Als Ausgangspunkt dienen ihm die Unterschiede zwischen der süddeutschen Spätgotik und der italienischen Frührenaissance. Diese versucht er mit den verschiedenen Ausbildungen und Alltagsgewohnheiten von Florentiner und Nürnberger Auftraggebern des 15. Jahrhunderts zu erklären. Seitdem gibt es zahlreiche Versuche, kulturell bedingte Sehgewohnheiten zu bestimmen. Sie basieren auf der Analyse von Kunstwerken und schriftlichen Quellen. Da der Sehakt jedoch post hoc nicht direkt gefasst werden kann, bleiben sie notgedrungen theoretisch-spekulativ.

Das vorliegende Projekt baut auf vorangegangenen Studien im weltweit ersten Eye-Tracking-Labor an einem kunsthistorischen Institut auf (Projektleiter: Raphael Rosenberg, Kunstgeschichte) und vertieft die bereits bestehende Zusammenarbeit mit dem Institut für psychologische Grundlagenforschung der Universität Wien (Kooperationspartner: Helmut Leder). Im Mittelpunkt steht eine kulturvergleichende Studie, in der japanische und österreichische Versuchspersonen, in Alter, Geschlecht und Bildungsstand vergleichbar, auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei der Betrachtung von Gemälden untersucht werden. Unserer Hypothese nach, weisen Österreich und Japan erhebliche Unterschiede in ihrer visuellen Kultur auf, was sich auf die Betrachtung von Gemälden auswirken dürfte. Österreichische Personen werden in Wien getestet, japanische in Japan. Der erste Teil der Studie findet im Labor statt, der zweite in einem originalen Museumskontext. Ein neu entwickeltes Eye- Tracking-System bietet erstmals die Möglichkeit, einen Labor-Museum-Vergleich von Blickbewegungen bei der Kunstbetrachtung durchzuführen. Die Auswertung der Blickbewegungsdaten erfolgt durch eine eigens entwickelte Software ("Eye-Trace"), mit der wir neben den üblichen okulometrischen Parametern (d.h. Fixationsdauer, Sakkadenlänge und Heat Maps) insbesondere die Strukturen der häufig wiederholten Blicksprünge analysieren, die wie wir bereits nachgewiesen haben, eine hohe Korrelation mit der Komposition des Kunstwerkes aufweisen. Eine mit nur wenigen japanischen und österreichischen Versuchspersonen durchgeführte Voruntersuchung zeigte deutliche Gruppenunterschiede. Sofern sich diese im Projekt bestätigen, liefern sie erste Erkenntnisse zu kulturell bedingten Prägungen bei der Wahrnehmung von Gemälden. Wir erhoffen uns aus der empirischen Studie mit zeitgenössischen Betrachtenden Rückschlüsse hinsichtlich möglicher historischer Veränderungen der Kunstbetrachtung ziehen zu können. Die zu erwartenden Ergebnisse werden große Auswirkung auf historische Untersuchungen der Kunstgeschichte wie auch auf die Akzeptanz empirischer Methoden in diesem Fach haben. Das Projekt wird maßgeblich dazu beitragen, die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Kunstgeschichte und Psychologie zu stärken und soll mit einer interdisziplinären Konferenz abschließen. 

 

Leiter / Leiterin: 
Raphael Rosenberg
Projektnummer: 
P 25821

Förschungsförderung: