Raum und Sachkultur in der mittelalterlichen Stadt: Archäologische Forschungen in Tulln
In der archäologischen Forschung wurden in den letzten Jahren Forschungsansätzen entwickelt, die methodische Erweiterungen bei der Beschäftigung mit Raumstrukturen und Fundmaterial angeregt haben. Die Architektursoziologie beschäftigt sich mit der gebauten Umwelt und Gebäudeensembles, die Raumsoziologie definiert den Raum als relationales Gebilde auch in übergeordnetem Sinne. Fragen der Stadtentwicklung lassen sich anhand dieser Kategorien neu interpretieren. Die über die Kulturanthropologie angeregte Auseinandersetzung mit der materiellen Kultur untersucht Artefakte hinsichtlich einer Objektbiographie, der Bedeutung der Objekte für Produzenten und Nutzer, im Fokus stehen ferner die soziale und kulturelle Konnotation der Sachkultur. Die niederösterreichische Stadt Tulln gehört aufgrund zahlreicher Grabungen seit den 1970er Jahren zu den am besten archäologisch dokumentierten Städten Österreichs, dabei wurden große Teile der römischen und mittelalterlichen Besiedlung erfasst. Die Grabungen ab 2005 lieferten zusätzliches Datenmaterial, das sich ausgezeichnet als Ausgangspunkt für Fragestellungen zu Raum und Sachkultur eignet. Dabei angewendete modernste Grabungsmethoden erleichtern den Zugang zum Material.
Durch die Auseinandersetzung mit den Kategorien "Raum" und "Material" in der mittelalterlichen Stadt können einzelne Bereiche der Stadt punktuell beleuchtet werden, größere Zusammenhänge aufgedeckt und die Stadtentwicklung systematisch untersucht werden. Als repräsentative Ausschnitte der großflächigen Stadtkerngrabungen wurden der mittelalterliche Marktplatz der Stadt und ein Töpfereistandort in der mittelalterlichen Vorstadt gewählt. Beide lassen in hervorragender Weise die Bearbeitung unter den erwähnten methodischen Voraussetzungen zu, wobei die Bearbeitung des Marktplatzes mit Hilfe raumsoziologischer Aspekte die Relationen zum Stadtraum, zum Handelsraum und Produktionsraum in all seinen stadthistorischen und archäologisch auswertbaren Quellen und Forschungsansätzen aufzeigen kann. Fragen zur Bauweise auf dem Markt, zu funktionalen, herrschaftlich-ökonomischen und sozialen Gesichtspunkte sowie zu städtebaulichen Konzepten sollen im Zentrum der Forschungen stehen. Bei der Untersuchung des Töpfereistandorteswird mit den Methoden der "material culture studies" die Öfen und die Keramik hinsichtlich qualitativer und quantitativer Aspekte, der technischen Entwicklungen im Mittelalter und zu sozialen Perspektiven der Produzenten wie der Konsumenten untersucht. So kann das Ziel des beantragten Forschungsprojektes, planmäßig von der mittelalterlichen Gesellschaft in Tulln durchgeführte Stadtentwicklungen, wie Stadterweiterungen, die Organisation und das Betreiben eines Marktes und anderer Produktionszentren zu untersuchen, erreicht werden. Mit dem eingereichten Forschungsprojekt kann das in Tulln gewonnene Datenmaterial basierend auf neuen Forschungsansätzen in der Archäologie systematisiert und bearbeitet werden.