Region und Nation in der Ukraine

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat die Ukraine infolge des wechselhaften und kontroversen politischen Geschehens und aufgrund ihrer komplexen kulturellen Dynamik ein gesteigertes Forschungsinteresse auf sich gezogen. Der Begriff "Ukraine" selbst bedarf der Klärung: Bezieht er sich auf ein geographisches Territorium, auf einen Staat, auf eine Nation oder eine Kultur? Die inkongruenten und sich dabei gleichzeitig überschneidenden Aspekte des Begriffs "Ukraine" verbieten jeglichen monodisziplinären Ansatz, wenn man die nations- und kulturbildenden Diskurse beschreiben will. Das vorliegende Projekt zeichnet sich durch einen interdisziplinären und transkulturellen Ansatz aus, der sämtliche simplifizierenden Konzeptualisierungen hinterfragt. Eine besonders wichtige Bedeutung kommt den Regionen in der Ukraine zu. Dennoch ist bislang nur wenig bekannt über die diskursiven Formen des ukrainischen Regionalismus und seinen Zusammenhang mit übergeordneten Transformationsprozessen. Das Projekt geht von der Hypothese aus, dass unterschiedliche regionale Identifikationsmuster in verschiedenen sozialen und kulturellen Bereichen keine Karte mit klar definierten Grenzen bilden, sondern sich vielmehr überschneiden bzw. als eine Art Archipel beschrieben werden können.

Fünf Unterprojekte sollen dazu beitragen, eine politische Entität besser zu verstehen, die erst vor kurzem Staatlichkeit erlangt hat und ihre kulturelle Identität immer noch nur mühsam artikulieren kann. Der gemeinsame Nenner dieser Unterprojekte ist ihre Fokussierung auf den Regionalismus. Den Auftakt des Projektes wird eine soziologische Umfrage bilden, die Identifikationen und Werthaltungen beschreiben und die einzelnen Unterprojekte mit einer signifikanten Menge empirischer Daten versorgen soll. Diese Umfrage wird durch einen Beitrag des Schweizer Staatssekretariats für Bildung und Forschung finanziert. Die Ergebnisse aller Unterprojekte werden in eine interdisziplinäre Analyse integriert und veröffentlicht. Methodologisch wird das Projekt quantitative und qualitative soziologische Verfahren (Fragebogen, Tiefeninterviews) kombinieren mit diskursanalytischen, kulturhistorischen und hermeneutischen Ansätzen. Das eigentliche Ziel des Projektes ist es, die Dominanz eines nationalstaatlichen Paradigmas in der Analyse des Phänomens Ukraine durch die Untersuchung der dynamischen Wechselbeziehungen zwischen nationalen und regionalen Transformationsprozessen in Frage zu stellen. Das Projekt soll zeigen, dass die Ukraine am besten durch ihre Regionen verstanden werden kann und dass die verschiedenen Regionen dabei nicht von der Nation getrennt betrachtet werden dürfen. Das Projekt will die Ukraine als nicht fest umrissenes Konstrukt rekonzeptualisieren, in dem sich unterschiedliche Diskurse überschneiden, aufeinander treffen und möglicherweise verschmelzen. Das Projekt will das Konzept der Nation als Entität, die unumstösslich definiert ist durch traditionelle politische Grenzen und kulturelle, ökonomische, historische oder religiöse Stereotype, erheblich erweitern.
An diesem Projekt beteiligen sich Historiker, Soziologen, Anthropolgen, Ökonomen, Literaturwissenschaftler und Linguisten aus der Ukraine, Russland, Polen, der Schweiz, Deutschland, Österreich, Kanada und den USA. Die Vorbereitung des Projektes, zu der zwei Konferenzen (Kiew/L'viv 2008; St. Gallen 2009) gehörten, wurde durch einen Beitrag des Schweizer Staatssekretariats für Bildung und Forschung finanziert. Die Ergebnisse des hier vorgestellten Projekts werden in einem Sammelband und in mindestens 10 wissenschaftlichen Artikeln, die in internationalen Zeitschriften veröffentlicht werden, vorgestellt. Ausserdem sieht das Projekt vier Dissertationsvorhaben vor; drei davon werden von einem westeuropäischen und einem ukrainischen Wissenschaftler gemeinsam betreut, eine von einem westeuropäischen und einem amerikanischen Projektteilnehmer. 

 

Projektnummer: 
I 736

Förschungsförderung: