17.06.2015

Wanderungen in Warschau

Europatagebuch Warschau 14. bis 17. Juni 2015. [1] POLIN: Das ganz neue und 2013 eröffnete Museum für die Geschichte der polnischen Juden – die Ausstellung zu tausend Jahren jüdischer Geschichte in Polen und polnisch-jüdischer Geschichte wurde im Oktober 2014 eröffnet. Das Gebäude des finnischen Architekten Mahlamäki (Studio Lahdelma & Mahlamäki) drückt die jüdische Geschichte Polens mit den Mitteln der Architektur aus: Von keiner Seite sieht es gleich aus, es arbeitet mit viel Licht und Schatten, abhängig vom Sonnenstand und der Jahreszeit. Im Eingang befindet man sich in einer Schlucht mit überhängenden Wänden. In dieser Schlucht geht man zunächst über eine leicht ansteigende Rampe, um dann über eine Stiege zur Dauerausstellung ins Untergeschoss geführt zu werden. [2] Für die Ausstellung wird zwar dem Prinzip der Chronologie gefolgt, aber die Anordnung in acht Epochen- und Themenfeldern bricht mit jeder Linearität. Es wird mit allen Mitteln der Multiperspektivität gearbeitet. Am besten findet man sich zurecht, wenn man seine Rolle als jemand, der sich die Erschließung von Bedeutung zur selbstverantworteten Sache macht, annimmt. [3] Das Konzept folgt im Übrigen und zweifellos dem modernsten Stand der Ausstellungstechnik und Museumsdidaktik. Auch wenn manche Bereiche farbenfroh ausgestattet sind, herrscht insgesamt ein Dämmerlicht vor – und es ist zu fragen, ob die polnische jüdische Geschichte nicht mehr Licht für bestimmte Phasen oder Epochen verlangen würde. [4] Das Museum steht nicht nur gegenüber dem Denkmal für die Helden/Heldinnen des Warschauer Ghettoaufstandes, sondern damit auch – und dass muss man sich bewusst halten – auf dem Gebiet des ehemaligen Ghettos, das 1943 vollständig zertrümmert wurde. Willy Brandts Kniefall fand vor diesem 1948 errichteten Denkmal statt, der Platz (Square) ist nach ihm benannt. [5] Der aus dem Untergrund heraus geführte Aufstand lässt es einerseits nachvollziehbar erscheinen, wenn die Dauerausstellung im Untergrund des Gebäudes gezeigt wird. Andererseits lautet die richtige These des Museums, dass die jüdische Geschichte in Polen zugleich polnische Geschichte ist, sie ist nicht eine „Geschichte in“, sondern polnische Geschichte. So gesehen sollte nicht alles im Untergeschoss ausgestellt sein, da das Museum eigentlich nicht will, dass die jüdische Geschichte ausschließlich in der Perspektive des Holocaust verstanden wird. [6] Einwenden lässt sich: Im oberirdischen Teil findet das heutige Leben statt – Kultur, jüdische Kultur, aktuelle Ausstellungen, Konferenzen, Filmvorführungen etc. Gebäude und Anordnung der Inhalte lassen einen daher nicht in Ruhe, sondern werfen Fragen auf, irritieren, denn es gibt keine geradlinigen Antworten. [7] In Warschau wurden nicht nur die Trümmer beseitigt, sondern viele historische Gebäude, die SS, Wehrmacht und deutsche Polizei während des Warschauer Aufstandes ebenso zerstörten wie vorher das Ghetto, das die Besatzer selber eingerichtet hatten, wurden getreu wieder aufgebaut. So lässt sich ein recht gutes Bild der Stadt des 17. und vor allem des 18. Jahrhunderts gewinnen, aus der Zeit der sächsisch-polnischen Union. Canalettos Blick auf Warschau von der Terrasse des Königsschlosses aus (1773) lässt sich daher heute sehr gut vergegenwärtigen. Und ebenso Wojcieck Gersons Blick auf Warschau von ca. 1854 vom (linken) Weichselufer herauf zur Altstadt. [8] Die von den deutschen Besatzern und Mördern versuchte Damnatio Memoriae mittels Totalzerstörung der Stadt ist gescheitert. [9] An den Außenmauern der Barbakane zeigen zeitgenössische Fotos (zumeist aus dem Staatsarchiv Warschau) die Zerstörung der Stadt und den Beginn des Wiederaufbaus. An vielen Häusern und an freien Standorten erinnern Gedenktafeln oder kleine und größere Denkmäler an die beiden Aufstände 1943 bzw. 1944 und die Zertrümmerung der Stadt. Wenigstens ein Teil der Inschriften sollte – so wäre zu wünschen – neben Polnisch noch in weiteren Sprachen zugänglich gemacht werden, so wie es bei der Fotoausstellung und dem Denkmal für den Warschauer Aufstand der Fall ist. [10] Die ‚sozialistischen‘ Bauten der 1950er-Jahre, zu denen insbesondere der von Stalin selber angeregte Kulturpalast (mit sowjetischen Architekten) und das Viertel am Verfassungsplatz (Verfassung von 1952) gehören, sind bis zu einem gewissen Grad historistisch und greifen viele Elemente der Herrschaftsarchitektur des 18. und 19. Jahrhunderts auf. Es wird mit gewaltigen Säulen, dem Herrschaftssymbol schlechthin, und mit allegorischen Figuren, die in Nischen oder in langen Reihen auf Gesimsen stehen, gearbeitet. Auch wenn die Themen der Allegorien zeitgemäß gewählt wurden, ist die allegorische Darstellungsweise so historisch wie ein Darstellungsprinzip nur sein kann. [11] Überhaupt ist die ul. Marsałkowska aufgrund ihrer breiten, zumeist schnurgeraden Anlage mit frühen, mittleren und ganz neuen Hochhäusern eine ausgesprochene Herrschaftsachse, die neben der Politik vor allem das Ökonomische und dessen Primat in der Gesellschaft ausdrückt. [12] Ein langer Fußmarsch vom Platz der Drei Kreuze (pl. Trzech Krzyży) über die aleje Ujazdowskie, die Belwederska, die Jana Sobieskiego und schließlich die aleje Wilamowska führt durch viele seit dem Zweiten Weltkrieg entstandene Wohngebiete, teils im ‚Plattenbaustil‘, schafft Distanz zum Zentrum und ermöglicht es, sich auf eine historische, da nicht 1944 zerstörte, Oase einzulassen: Schloss und Park Wilamów (=Villa Nova). König Jan III. Sobieski ließ – ähnlich wie Ludwig XIV. in Frankreich zur selben Zeit in Versailles – ein schon vorhandenes Gebäude (nur viel bescheidener als Ludwig) barock erweitern und ausbauen. Ein italienischer Architekt, ein französischer Park, Künstler aus verschiedenen Regionen Europas arbeiteten zusammen. [13] Jan III. Sobieski ist den Meisten wegen seiner entscheidenden Rolle beim Kampf gegen die ‚Türken‘ 1683, die Wien belagerten, bekannt. Ein europäischer Fürst, dessen bevorzugter Ort, Wilanów, die Europäizität seines Polens spiegelt. [14] Die auf seinen Tod 1696 folgende sächsisch-polnische Union, zunächst unter August dem Starken von Sachsen, konnte kulturell daran anknüpfen, wie es bis heute im wiederaufgebauten historischen Warschau dieser Unionszeit gut nachvollzogen werden kann. Die späteren Besitzer von Schloss Wilanów verfolgten mit ihren Kunst- und Antikensammlungen dieselbe europäistische Linie. [15] Einen guten Einblick von der Beibehaltung dieser Tradition vermittelt das Gemälde von Schloss Wilanów des Malers Wincenty Kasprzycki von 1833. Die Gestaltung des Parks u.a. mit einem Chinesischen Altan und mit Statuen oder anderen Artefakten, die auf die Antike Bezug nahmen, etc. knüpft an die europäischen Standrads der Epoche um 1800 an. [16] Die Europäizität des 18. Jahrhunderts vermittelt, anders, aber nicht weniger eindrücklich der Łazienki-Park (von Łazienka = Badehaus). Canaletto porträtierte den Park mit seinen Gebäuden 1776. Seine Hauptprägung erhielt der Park unter dem letzten polnischen König Stanisław August Poniatowski, einem aufgeklärten Fürsten. Das […]

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